#WomenSpeak: Gewerkschaften machen uns stark
1. Wollen Sie uns etwas über sich erzählen?
Mein Name ist Nancy Estepa. Ich bin seit etwa 15 Jahren in der kolumbianischen Zementindustrie tätig. Ich bin jetzt seit zwei Jahren Gewerkschaftsführerin.
Meine Gewerkschaft, das Nationale Syndikat der Beschäftigten im Bereich Industriematerialien für das Bauwesen (SUTIMAC), die INTERGREMIAL angegliedert ist, wurde vor 50 Jahren gegründet. Ich bin die erste Frau in der Geschichte von SUTIMAC, die eine Vorstandsposition innehat. Ich bin derzeit Sekretärin für Frauenfragen. Die Arbeit ist nicht einfach, aber wir halten durch.
Ich bin Mutter und Oberhaupt meines Haushalts. Ich habe zwei wunderschöne Töchter, auf die ich sehr stolz bin. Meine Töchter sind meine Inspiration, mich weiterhin für Frauen einzusetzen. Ich möchte, dass meine Kinder in einer Arbeitswelt leben, die frei von Gewalt und Schikanen ist – mit fairen Bedingungen und Arbeitsplatzgarantien.
Meine Leidenschaft gilt der Musik, dem Tanzen, dem Reisen und der gemeinsamen Zeit mit meiner Familie.
2. Was sind die größten Herausforderungen, denen Sie bei Ihrer Arbeit als Arbeitnehmerin begegnen?
Meine größte Herausforderung bestand darin, zu zeigen, dass Frauen in jedem Job in unserer Branche gute Leistungen erbringen können und dass wir die gleichen Fähigkeiten wie unsere männlichen Kollegen haben, um jede Aufgabe erfüllen zu können, selbst in einer Branche, in der die Illusion herrscht, sie sei nur für Männer geeignet.
Aufgrund der zutiefst machohaften und patriarchalischen Kultur unserer Branchen besteht eine weitere große Herausforderung für Frauen darin, Zugang zu einem ruhigen und sicheren Arbeitsumfeld zu erhalten, das frei von Belästigung und Gewalt ist. Da die Zementindustrie in meinem Land überwiegend von Männern dominiert wird, kommen geschlechtsspezifische Belästigungen und Gewalt tendenziell statistisch häufiger vor. Frauen melden die Übergriffe aber nicht immer, aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder „Probleme“ zwischen Kollegen zu verursachen, aus Unwissenheit darüber, welche Arten von Gewalt es am Arbeitsplatz gibt, oder weil wir auf die eine oder andere Weise Gewalt in der Gesellschaft eingebürgert haben.
3. Wie können Sie und Ihre Gewerkschaft diese Probleme lösen?
Es ist sehr wichtig, dass Frauen an allen Entscheidungsprozessen der Gewerkschaft beteiligt sind. So können Gewerkschaften Frauenfragen besser angehen. Das vermeintliche Desinteresse von Frauen an der Gewerkschaftsführung ist größtenteils auf die patriarchalische Kultur, die Machokultur in vielen Gewerkschaften zurückzuführen, durch die sich Frauen nicht willkommen fühlen.
Bislang wurden alle Fälle von Belästigung und Gewalt, die dem Sekretariat für Frauenfragen vorgelegt wurden, in irgendeiner Form gelöst. Wir sind den Fällen schnell und anonym nachgegangen. Wir wissen jedoch, dass die Arbeitnehmerinnen in den meisten Fällen lieber keine Beschwerde einreichen.
In Bezug auf die Beteiligung von Frauen muss die Gewerkschaftsbewegung zunächst versuchen, die doppelte zeitliche Arbeitsbelastung und die aufgezwungenen sozialen Rollen, die Frauen ausfüllen müssen, anzuerkennen. Die doppelte Arbeitszeit von Frauen wirkt sich ganz real darauf aus, wie viel Zeit Frauen der Gewerkschaftsarbeit widmen können. Es ist sehr schwierig für uns, die Rolle einer Gewerkschaftsführerin zu erfüllen, wenn wir nicht die Möglichkeit haben, gleichzeitig Mütter und Gewerkschafterinnen zu sein, ohne uns entscheiden zu müssen.
4. Was bedeutet eine gleiche und bessere Zukunft für Sie?
Eine bessere Welt wäre für mich eine, in der es Gleichberechtigung bei allen Aufgaben und Verantwortlichkeiten gibt, und keine gesellschaftlichen Geschlechterrollen mehr, durch die Frauen kleingehalten werden.
Eine bessere Welt wäre eine, in der die Pflege eine Gemeinschaftsaufgabe ist und gleiche Arbeitsbedingungen für Männer und Frauen herrschen. Eine bessere Welt bedeutet eine sichere Gesellschaft, in der wir ohne Angst, vergewaltigt, belästigt oder umgebracht zu werden, auf die Straße gehen können.
Die Anerkennung der zwischen Männern und Frauen bestehenden Unterschiede, sowohl physisch als auch sozioökonomisch, sollte dazu dienen, das Lohngefälle und die Ungleichheit zu beseitigen, und nicht als Vorwand dafür herhalten, die Unterschiede auf Dauer zu bewahren. Wir brauchen gleiche Beschäftigungschancen, soziale Garantien und eine faire Entlohnung.
5. Welche Rolle sollten Ihrer Meinung nach Frauen bei der wirtschaftlichen Erholung nach COVID-19 spielen?
Damit sich Wirtschaft, Gesellschaft und Arbeitsmärkte unserer Länder nach COVID-19 erholen können, brauchen wir eine stärkere Beteiligung und Führung von Arbeitnehmerinnen in Gewerkschaftsorganisationen. Durch die Stärkung von Arbeitnehmerinnen bauen wir eine bessere, stärkere und geschlechtergerechte Gewerkschaftsbewegung auf.
Leider sind Frauen von dieser Pandemie am stärksten betroffen, da sich die Armut bereits jetzt stark auf den weiblichen Sektor konzentriert, was sich durch die globale Krise nur noch weiter verschärft. So ist die Zahl der Frauen, die in bitterer Armut leben und unter Gewalt, Femizid und Arbeitslosigkeit leiden, gestiegen.
Dennoch werden Frauen als fleißig, engagiert, verantwortungsbewusst und organisiert beschrieben. Wir müssen diese Eigenschaften innerhalb unserer Gewerkschaften und in der Solidaritätsbekundung gegenüber anderen stärker betonen. Gewerkschaften machen uns stark.
*#WomenSpeak ist ein monatlicher Artikel zu geschlechtsspezifischen Themen und Anliegen, der von verschiedenen Arbeiterinnen der BHI-Mitgliedsorganisationen verfasst wird. Er soll Arbeiterinnen mehr Räume und Plattformen bieten, um ihre Gedanken und Sorgen zu den verschiedensten Themen zu äußern, die für sie als Arbeiterinnen und vor allem als Frauen wichtig sind.