Sowohl die Konvention über Gewalt und Belästigung, 2019, als auch die entsprechende Empfehlung des gleichen Jahres wurden am letzten Tag der Hundertjahrfeier der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf mit überwältigender Mehrheit von den Delegierten angenommen: Die Konvention wurde mit 439 Ja-Stimmen verabschiedet (bei sieben Gegenstimmen und 30 Enthaltungen), die Empfehlung mit 397 Ja-Stimmen (bei 12 Gegenstimmen und 44 Enthaltungen).
Die Konvention besagt: „Jeder hat das Recht auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung“. Mit anderen Worten, hier geht es um mehr als die gute Praxis oder verantwortungsvolles Verhalten. Es geht um ein Recht.
Es gibt zahlreiche Konventionen und Empfehlungen, die für alle Arbeitnehmer gelten; nur allzu oft jedoch werden Arbeitnehmer durch die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse am Arbeitsplatz daran gehindert, diese Rechte tatsächlich effektiv auszuüben. Dieses Risiko wird auch hier bestehen – doch ist man sich dieser Gefahr zumindest bewusst: die Gültigkeit dieses Rechts unabhängig vom Vertragsstatus des Einzelnen wurde klar zum Ausdruck gebracht. Gewalt und Belästigung gegenüber Dritten, d. h. Personen, die am Arbeitsplatz tätig sind, ohne Arbeitnehmer zu sein – die Öffentlichkeit eingeschlossen –, fallen ebenso darunter. Selbst über den physischen Arbeitsplatz geht dieses Recht hinaus: So erstreckt es sich nicht zuletzt auch auf das Online-Verhalten und soziale Zusammenkünfte der Belegschaft.
Sowohl die Konvention als auch die Empfehlung gelten für Frauen wie für Männer; gleichwohl wird anerkannt, dass Gewalt und Belästigung oftmals mit einer schwächeren Machtposition der Frau am Arbeitsplatz zusammenhängen. Dies zu sehen ist wichtig, um effektive Wege für den Umgang mit Gewalt und Belästigung finden zu können, sowie Möglichkeiten, die Verhältnisse am Arbeitsplatz anders zu gestalten.
Dabei berücksichtigen die aufgestellten Normen auch am Arbeitsplatz relevante Aspekte häuslicher Gewalt, da diese Frauen meist in die Opferrolle drängen. So lassen sich Wege entwickeln, die Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Beschäftigte zu verringern. Ein denkbarer Ansatz wäre etwa die bezahlte Freistellung für Opfer häuslicher Gewalt, verankert in Tarifverträgen oder der Arbeitgeberpolitik.
BHI-Generalsekretär Ambet Yuson, der die Annahme von Konvention und Empfehlung im Rahmen der Internationalen Arbeitskonferenz gefordert hatte, erklärte: „Dies ist ein historischer Durchbruch – nicht nur, weil er Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz als Rechtsfrage völkerrechtlicher Dimension behandelt, sondern auch, weil er zeigt und widerspiegelt, welch bemerkenswerten Fortschritt die Entwicklung der gesellschaftlichen Einstellung in den letzten Jahren erfahren hat.”
“Es gab eine Zeit, da wurden Verletzungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz verbreitet als ‚Teil des Pakets‘ hingenommen. Ganz ähnlich stand das Thema ‚Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz‘ sehr lange Zeit im Schatten, und betroffene Arbeitnehmer – insbesondere Arbeitnehmerinnen – haben ihre Situation ertragen, weil sie keinen Ausweg sahen. Die Hundertjahrfeier der Internationalen Arbeitskonferenz hat diese beschämenden, inakzeptablen und doch allzu gängigen Praktiken nun endlich ins Tageslicht gerückt.”
Rita Schiavi, Vorsitzende des Internationalen Frauenausschusses der BHI, die 2018 und in diesem Jahr an den Sitzungen teilgenommen hatte, erklärte: „Wir müssen die Gelegenheit nutzen, die Ratifizierung und Umsetzung dieser Konvention zu erwirken, um sicherzustellen, dass die Regierungen der Länder sie durchsetzen und die Sozialpartner diese inspirierenden Prinzipien verwirklichen – am Verhandlungstisch wie auch am Arbeitsplatz.”
Die BHI und ihre Mitgliedsorganisationen setzen sich auf nationaler und globaler Ebene aktiv für die Beendigung geschlechtsspezifischer Gewalt ein. Ein zentrales Ziel dieser Kampagne war eine entsprechende ILO-Konvention und -Empfehlung.