Jin Sook Lee: Mutter. Ehefrau. Aktivistin.

06 May 2020 17:19


*Statement ihrer Familie

Seit Jin Sook am 7. April von uns gegangen ist, sind meine Töchter und ich wie betäubt. Wir versuchen, uns in einem neuen Leben ohne sie zurechtzufinden. Die Trauer überschwemmt uns, wir bemühen uns, nicht zu ertrinken, und hoffen, dass wir irgendwann die rettende Küste erreichen. Gleichzeitig gedenken wir ihrer und feiern sie für ihren Kampf und ihre Erfolge als Aktivistin und Organizer für gewerkschaftliche Aufbauarbeit, die durch so ehrliche und machtvolle Worte ihrer Kollegen und Freunde auf der ganzen Welt in den Beileidsbekundungen ergreifend zum Ausdruck gebracht werden.  

Meine Töchter und ich möchten uns bei Ihnen und Euch bedanken, für die tröstenden Worte und die Erinnerung an eine Kriegerin, die gefallen ist. Die Worte, die geschrieben wurden, zeigen uns, dass unsere Mutter und Ehefrau ein Leben von noblem Charakter gelebt hat, auch wenn dies zeitweise aus unserer Sicht extrem schwer war. Daher möchte ich als Dank für die lieben Worte und als Beitrag zum allgemeinen Gedenken einige Gedanken zu Papier bringen.  

Wie bei allen Menschen, so ist es auch bei Jin Sook Lee nicht einfach, sie zu beschreiben, schon gar nicht in nur wenigen Worten. Zurückblickend auf die 27 Jahre, die ich mit ihr verheiratet war, und die 30 Jahre der Freundschaft, die mich mit ihr verbinden, möchte ich die Erinnerung an sie mit den folgenden Worten verknüpfen: schlicht, komplex, fokussiert, wesentlich.  

SCHLICHT. Jin Sook lachte gerne, brach in lautes Gelächter aus, das Gesicht gerötet und in die Hände klatschend, wenn sie eine lustige Geschichte oder einen guten Witz gehört hatte. Ihr Geschmack war schlicht. Wie die meisten Menschen mochte sie lieber einfache Hausmannskost und schlief lieber im eigenen Bett, besonders nach langen Reisen. Unsere Wohnung war immer sauber, gemütlich und minimalistisch. Die Kleidung, die sie trug, hatte sie vor mehreren Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten gekauft, und sie trug wenige Accessoires (ihr liebstes Accessoire waren die Zirkonia-Ohrringe, die ich ihr während der Buchmesse 2004 in Frankfurt gekauft hatte). Sie mochte Handtaschen, aber trug oft Sachen mit sich herum, die sie bei Arbeitnehmerveranstaltungen über die Jahre hinweg gesammelt hatte. Einfach zuhause zu sein und das Nichtstun zu genießen, das fand sie schön. Sie ging gerne spazieren. Am liebsten jedoch war sie bei uns, mit ihrer Familie zusammen, auch wenn nicht gesprochen wurde oder wir irgendetwas unternommen haben, wenn wir einfach nur im selben Raum waren. Unser typisches Unterhaltungsprogramm bestand in einem gemeinsamen Filmabend oder einer Krimiserie, die wir zuhause ansahen.  

KOMPLEX. Sie tauchte tief in große Themen ein: geopolitische Veränderungen und die daraus entstehenden Folgen für Frauen und Arbeitsmigranten; die Schwierigkeiten bei der Unterstützung von gefährdeten Arbeitnehmern angesichts der endlichen Ressourcen Zeit, Geld und Arbeitskraft; die Weiterentwicklung der Arbeitnehmerbewegungen in Südkorea, den USA, Europa und anderswo. Sie wollte immer noch mehr Informationen, Analysen und Einblicke, um die sich verändernden Variablen besser zu verstehen, die letztendlich Auswirkungen auf die Arbeitnehmer haben. Sie zerbrach sich den Kopf, wie eine Roadmap für verschiedene Situationen aussehen könnte, und suchte nach handlungsfähigen Ansätzen, die sofortige Verbesserungen und einen Beitrag zum langfristigen Ziel bieten würden. Oft teilte sie diese Gedanken mit ihrer Familie, hauptsächlich mit mir, ich hörte zu und manchmal sagte ich etwas dazu. Wenn sie von beruflichen Reisen oder großen Veranstaltungen nach Hause kam, leerte sie ihre Erfahrungen und Eindrücke vor uns aus, genauso wie ihre Taschen voller Mitbringsel, die sie für die Familie gekauft hatte. Sie erzählte viel — herzerfrischende oder herzzerreißende Geschichten — über die Arbeitnehmer, mit denen sie bei der gewerkschaftlichen Aufbauarbeit tätig war. Viele Berichte, einige davon quasi Fortsetzungsgeschichten, kreisten um ihre Kollegen, andere Aktivisten und Organizer. Ambet (Yuson), die BHI-Kollegen am Hauptsitz und in den Regionen, Rita (Schiavi), Peo (Per-Olof Sjöö), Gail (Cartmail), Kirsty (Drew), Chidi (King), Bill (Street), Carmel (Abao), Elizabeth (Tang) und viele andere Namen fielen bei uns zuhause oft.  

FOKUSSIERT. Als ihr Ehemann konnte ich es manchmal nicht mit ansehen, dass sie ihre Batterien zwischendurch nicht auflud, dass sie sich aufrieb. Ich habe es sanft, diplomatisch oder kraftvoll versucht, habe gebeten, manchmal sogar verlangt, dass sie egoistisch sei und ihre Gesundheit an die erste Stelle setzt. Aber sie war durchweg auf ihre Arbeit fokussiert, die fast immer damit zu tun hatte, dass Arbeitnehmer an ihrer jeweiligen Arbeitsstätte einem Problem ausgesetzt waren.  

Vor sieben Jahren bekamen wir an unserem 20. Hochzeitstag ihre Krebsdiagnose als Geschenk. Während der Behandlung erlebte ich mit Jin Sook oft eine Art Versteckspiel in unserer kleinen Wohnung, denn wenn wir als Familie einen Film oder eine Sendung im Fernsehen guckten, schlich sie oft in ein anderes Zimmer, um einen Anruf oder eine E-Mail zu erledigen. Ich konnte ihre Motivation nicht verstehen und war während dieser Phase der intensiven Chemotherapie immer in Sorge um ihre Gesundheit. Ich versuche, sie dazu zu überreden, dass sie mir ihr Handy und ihren Laptop anvertraut, und manchmal drohte ich ihr mit einem Ultimatum: Ich sagte, ich würde die Familie in ein abgelegenes Bergdorf ohne Stromversorgung umziehen lassen, wenn sie ihr Telefon und ihren Laptop weiterhin benutzt. Dies waren natürlich zunächst spielerische Worte, doch sie wurden schärfer, als sie immer öfter Anrufe tätigte und ihre Stimme angespannter wurde. Schließlich erklärte sie mir, was die Vorbereitungen auf die WM 2022 in Katar beinhalteten, welche Bedeutung und welchen Umfang der Start einer Sportkampagne hat, mit der die grundlegenden Arbeitnehmerrechte für Tausende verteidigt werden sollen; sie beschrieb die ungeheure Herausforderung, einen Dialog und eine Zusammenarbeit mit der katarischen Regierung und der FIFA aufzubauen, während gleichzeitig eine Koordinierung mit den globalen Gewerkschaften und wichtigen Führungspersönlichkeiten stattfinden muss, und sie sprach über den Kampf der Arbeitsmigranten auf den Baustellen in Katar, den diese jeden Tag auszufechten haben. Wieder einmal ließen mich ihre Leidenschaft und ihre Ernsthaftigkeit verstummen.  

Anfang dieses Jahres kam ihr Endometriumkarzinom wieder, nur zweieinhalb Monate nach dem Ende der letzten Behandlung; sie kämpfte mit immensen Schmerzen und großer Angst, belastet von dem Gedanken an eine weitere schreckliche Behandlungsrunde und die Möglichkeit, dass sie dieses Mal nicht so viel Glück haben könnte. Trotzdem sah ich sie am Telefon und am Laptop. Dieses Mal wurde ich wütend. Ich verlangte von ihr, dass sie aufhört und sich ausruht. Sie war deutlich von Müdigkeit gezeichnet und musste sich anstrengen, um den Fokus nicht zu verlieren, doch sie erklärte mir, dass die Arbeitsmigranten in Katar aufgrund der Covid-19-Ausgangssperre in ihren Unterkünften in Quarantäne seien. Die engen Schlafräume bedeuten eine Gefahr für jeden einzelnen von ihnen, daher suchte sie nach Lösungen und Menschen, die helfen könnten. Mit schwacher Stimme fragte sie „Wer wird diese Beschäftigten schützen?“  

WESENTLICH. Jin Sook erzählte oft nur in wenigen Worten von ihrer Kindheit und wie sie aufgewachsen war. Im Laufe der Jahre erfuhr ich von ihr Stück für Stück mehr über den Tod ihrer Mutter, den sie erlebte, als sie selber 15 Jahre alt war, und ihre Schwestern ein Jahr bzw. drei Jahre jünger. Als junger Teenager, wenn man üblicherweise die Wärme und Fürsorge einer Mutter braucht, nahm sie die wenig beneidenswerte Rolle an, ihren Schwestern eine Ersatzmutter zu sein. Sie fühlte sich leer und überfordert, alles war schwierig, selbst die nächste Mahlzeit zu kochen. Und sie trug die tiefe Trauer in sich, ihre Mutter unter schweren Umständen verloren zu haben. Doch sie arbeitete hart, um das zu erfüllen, was von ihr verlangt war, als Schwester, als Studentin an der Universität, als junge Feministin/Aktivistin, Organizer an der gewerkschaftlichen Basis und bei Kampagnen, zuerst in Kanada, dann in den USA, Südkorea und der Schweiz.  

Ich glaube, sie sah sich in Teilen selbst in den Frauen und Arbeitsmigranten. Natürlich war ihr auch bewusst, dass sie privilegiert war, im Vergleich zu den Arbeitern, die sich in einem fremden Land abmühen, um mit ihren kargen Löhnen die Familien zuhause ernähren zu können. Doch sie konnte nachvollziehen, wie schmerzhaft es ist, von der Familie getrennt zu sein und sich nach seinen Lieben zu sehnen. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als Einwanderin in Kanada verstand sie die Hürden zum Teil, die sich jenen in den Weg stellten, etwa wenn man versucht, sich an eine andere Kultur und Sprache anzupassen, an andere Regeln und Normen. Hauptsächlich jedoch sah sie diese Menschen einfach als Teil einer Familie, als jemanden mit einer Ehefrau oder einem Ehemann, als Mutter oder Vater, Schwester oder Bruder, ohne Unterschied zu ihr oder irgendeinem anderen Menschen auf dieser Welt. Für sie war es sowohl notwendig als auch selbstverständlich, den Frauen und Arbeitsmigranten zu helfen. Was ihr wirklich am meisten am Herzen lag, war, dass die Arbeitnehmer pünktlich ihre fairen Löhne bekommen und unbeschadet zu ihren Familien zurückkehren. Diese wesentlichen und heiligen Ziele verlor sie nie aus den Augen. Das endlose Hin-und-Her mit Regierungen, Organisationen und Ansprechpartnern über internationale Standards und Verhaltensregeln, Abkommen, Delegationsreisen usw. sah sie als notwendige Bestandteile einer Reise an, die mit der Erreichung dieser Ziele enden sollte. Wenn diese Ziele nicht erfüllt wurden, wenn die Arbeitnehmer für ihre harte Arbeit nicht den verdienten Lohn bekamen, wenn Arbeiter verletzt wurden oder wenn jemand an der Arbeitsstätte zu Tode kam, dann explodierte sie vor Wut und litt Qualen wegen der Situation der Arbeitnehmer und ihrer Familien. Für sie fühlte es sich an, als hätte sie versagt, und als hätten alle an dieser Reise beteiligten Personen und Organisationen versagt. Wenn jedoch Arbeitnehmer faire Löhne bekamen und Stadien oder andere Strukturen ohne Verletzungen oder Todesfälle fertiggestellt wurden, wenn Sicherheit, Schulungen und gute, menschenwürdige Arbeitsbedingungen gegeben waren, dann atmete sie erleichtert auf und freute sich auf einen weiteren Tag, an dem sie sich für diese Ziele einsetzen konnte, für diejenigen Arbeitnehmer, die so weit weg von zuhause waren.  

Als Jin Sook jung war, träumte sie davon, um die Welt zu reisen. Sie lebte irgendwann das Leben, das sie wollte. Sie liebte ihre Familie, sie zog zwei unabhängige junge Frauen groß und sie sah die Welt, die ganze, große Welt, nicht wie eine Touristin oder Außenstehende, sondern als jemand, der sich dafür einsetzt, dass die Welt gerecht, fair und menschlich ist.  

Kyung Kyu Lim

Genf, 28. April 2020